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Diagnostik der myeloproliferativen Neoplasien

Bei den myeloproliferativen Neoplasien (MPN) handelt es sich um Stammzellerkrankungen, die durch eine klonale Proliferation einer oder mehrerer Zelllinien der Granulozytopoese, Erythrozytopoese und Megakaryozytopoese gekennzeichnet sind. Mit Ausnahme der durch die Philadelphia-Translokation t(9;22)(q34;q11) beziehungsweise durch das BCR/ABL-Fusionstranskript definierten chronischen myeloischen Leukämie (CML) umfasst die Gruppe der sogenannten BCR-ABL-negativen MPN folgende Erkrankungen:

  • Polyzythämia vera (PV)
  • essentielle Thrombozythämie (ET)
  • primäre Myelofibrose (PMF)
  • unklassifizierbare MPN (MPN-U)
  • systemische Mastozytosen sowie als Raritäten die chronische Neutrophilen-Leukämie (CNL) und
  • die chronische Eosinophilen-Leukämie (CEL)

Überwiegend sind Erwachsene zwischen dem 5. und 7. Lebensjahrzehnt betroffen, wobei die chronische myeloische Leukämie und die essentielle Thrombozythämie auch im jüngeren Alter auftreten können. In den letzten zehn Jahren hat der Erkenntniszuwachs über die genetischen Grundlagen der MPN neue diagnostische und therapeutische Möglichkeiten eröffnet. Im Jahre 2005 wurde die Punktmutation JAK2 V617F in der Tyrosinkinasedomäne des Januskinase-2-Gens entdeckt (1). Diese sogenannte „gain of function“-Mutation führt über einen Verlust der inhibitorischen Aktivität der Pseudokinasedomäne des JAK2-Gens zu einer unkontrollierten Aktivierung des JAK-STAT-Signaltransduktionsweges und folglich zur klonalen Zellproliferation. Die Mutation JAK2 V617F ist bei circa 95 % der Patienten mit einer Polyzythämia vera nachweisbar. Auch bei den noch verbleibenden 5 % der PV-Erkrankungen findet sich überwiegend eine Mutation im JAK2-Gen, hier jedoch im Exon 12 (2). Charakteristisch für die PV mit JAK2-Exon-12-Mutation ist eine dominierende Erythrozytose (3).

Der Nachweis von Klonalitätsmarkern wie JAK2 V617F wurde in die WHO-Klassifikation 2008 erstmals als diagnostisches Hauptkriterium aufgenommen (4). Quantitative Genanalysen ergaben eine zunehmende JAK2-V617F-Mutationslast im Verlauf der Transformation einer essentiellen Thrombozythämie in eine Polyzythämia vera und eine noch höhere Mutationslast bei der Post-PV-Myelofibrose (5, 6). Für den Erkrankungsphänotyp und die Biologie der myeloproliferativen Erkrankungen ist die JAK2-Mutationslast demnach von entscheidender Bedeutung (7).

Die genetischen Veränderungen bei der essentiellen Thrombozythämie und der primären Myelofibrose sind komplexer als bei der Polyzythämia vera. Die JAK2-V617F-Mutation ist lediglich bei etwa 55 – 65 % der Patienten mit ET oder PMF nachweisbar. Eine im Jahre 2006 von Picman et al. (8) identifizierte Mutation im Thrombopoetinrezeptor-Gen, die MPL-Exon-10-Mutation (Codon W515), liegt bei circa 5 – 10 % der Patienten mit ET oder PMF vor. Die Mutation des Thrombopoetinrezeptors MPL induziert eine zytokinunabhängige Proliferation insbesondere der Megakaryozyten.

Im Dezember 2013 berichteten die Arbeitsgruppen von Klampfl (9) und Nagalia (10) über die Entdeckung von Mutationen im Calretikulin-Gen (CALR) bei JAK2/MPL-unmutierten Fällen von ET oder PMF. Mutationen in den Genen JAK2, MPL und CALR kamen nicht nebeneinander vor, sondern schlossen sich gegenseitig aus. Calretikulin ist ein multifunktionelles Ca2+-bindendes Protein, das überwiegend im endoplasmatischen Retikulum lokalisiert ist. In der Studie von Klampfl et al. (9) wurden CALR-Mutationen bei 25 % der ET- und 35 % der PMF-Patienten nachgewiesen. CALR-Mutationen fanden sich nicht bei Patienten mit PV, AML, CML und nur in wenigen Fällen von myelodysplastischem Syndrom (MDS), refraktärer Anämie mit Ringsideroblasten und Thrombozytose (RARS-T), chronischer myelomonozytärer Leukämie (CMML) und atypischer CML. Mit der Entdeckung der CALR-Mutationen konnte die molekulardiagnostische Lücke zwischen JAK2/MPL-mutierten und den noch verbleibenden circa 30 % der MPN weitgehend geschlossen werden. Weniger als 10 % der ET- und PMF-Patienten sind negativ sowohl für JAK2-Mutationen als auch für MPL- und CALR-Mutationen, auch bezeichnet als „triple negativ“.

Im Vergleich der JAK2-V617F-mutierten ET/PMF mit der CALR-mutierten ET/PMF geht die CALR-mutierte ET einher mit niedrigeren Leukozyten- und Hämoglobinwerten, höheren Thrombozytenwerten, niedrigerem Thromboserisiko und jüngerem Patientenalter (11, 12). Auch bei der CALR-mutierten PMF werden niedrigere Leukozytenwerte und höhere Thrombozytenwerte bei jüngerem Patientenalter beobachtet. Die Patienten entwickeln weniger häufig eine Anämie, Leukozytose oder Transfusionsbedürftigkeit (13). Der Nachweis einer CALR-Mutation korreliert sowohl bei der ET als auch bei der PMF mit einem signifikant verbesserten Gesamtüberleben.

In einer Studie von Tefferi et al. (14) ergab sich für die CALR-mutierte PMF eine mediane Überlebenszeit von 8,2 Jahren gegenüber 4,3 Jahren (CALR-; JAK2 V617F+), 4,2 Jahren (CALR-; MPL+) und 2,5 Jahren („triple negativ“). Prognostisch ungünstig einzustufen ist das Vorliegen einer ASXL1-Mutation bei CALR-negativer PMF (CALR- ASXL1+) mit einer medianen Überlebenszeit von 2,3 Jahren. Bei Vorliegen der Konstellation „triple negativ“ und „CALR- ASXL1+“ ist daher von einer Hochrisiko-PMF auszugehen.

Bei den myeloproliferativen Neoplasien gelten die JAK2-, CALR- und MPL-Mutationen als führende „Driver“-Mutationen, die den MPN-Phänotyp bestimmen (15). Neben dem bereits bestehenden malignen Zellklon können sich weitere, subklonale „Driver“-Mutationen wie zum Beispiel ASXL1, EZH2, CBL, IDH1/IDH2, TP53 und SRSF2 etablieren, die in der Regel mit einer Progression der Erkrankung assoziiert sind (16). CALR-Mutationen liegen im Wesentlichen in zwei Mutationssubtypen vor, einerseits Typ 1 (52-bp-Deletionen/65 %), andererseits Typ 2
(5-bp-Insertionen/32 %). Nach neueren Erkenntnissen scheint der CALR-Mutationssubtyp von klinischer Relevanz zu sein. Typ-1-Mutationen gehen demnach mit einem erhöhten Risiko einer myelofibrotischen Transformation einher, während Typ-2-Mutationen überwiegend mit einem ET-Phänotyp assoziiert sind (17).

Bei klinischem Verdacht auf eine myeloproliferative Neoplasie sollten aus peripherem Blut zunächst die folgenden Genmutationen mittels Stufendiagnostik abgeklärt werden:

  • JAK2-V617F-Mutation; ggf. JAK2-Exon12-Mutation
  • Calretikulin (Insertion/Deletion)
  • MPL-Mutation (Codon W515)
  • BCR-ABL (Ausschluss CML mit untypischem Verlauf, z.B. initiale Thrombozytose)

Die anschließende Knochenmarkdiagnostik dient, unabhängig vom Ergebnis des Mutations-Screenings, einerseits der Diagnosesicherung, andererseits der differenzialdiagnostischen Einordnung der MPN. Die zytogenetische Analyse sowie die Abklärung weiterer Mutationen in „Driver“-Genen dienen der Sicherung der Klonalität und liefern mitunter prognoserelevante Informationen, zum Beispiel über den Nachweis eines komplex aberranten Karyotyps oder über gegebenenfalls zusätzlich vorliegende subklonale Mutationen:

  • Knochenmarkhistologie
  • Zytogenetik
  • ASXL1- sowie EZH2-, SRSF2-, IDH1/2-Mutation

Untersuchungsmaterial

Zytomorphologie/Enzymchemie

je 4 – 6 luftgetrocknete Ausstriche, Knochenmarkaspirat und peripheres Blut (EDTA)

Molekulargenetik

3 ml EDTA-Blut oder KM-Aspirat (EDTA)

Hämatopathologie

Knochenstanze/Beckenkammtrepanat (in 4 % gepuffertem Formalin)

und luftgetrocknete Ausstriche für die Zytomorphologie (s. o.)

Zytogenetik

10 ml KM-Aspirat (Li-Heparinat)

Bei Rückfragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.

Dr. med. Johannes Owczarski
Facharzt für Laboratoriumsmedizin
Tel.: 0221 940 505 613
j.owczarski@wisplinghoff.de

Mit freundlichen kollegialen Grüßen

Labor Dr. Wisplinghoff

Literatur

1. Kralovics R, Passamonti F, Buser AS et al.: A gain of function mutation of JAK2 in myeloproliferative disorders. N Engl J Med. 2005; 352(17): 1779 – 1790

2. Scott LM, Tong W, Levine RL et al.: JAK2 Exon 12 mutations in polycythemia vera and idiopathic erythrocytosis. N Eng J Med. 2007; 356: 459 – 468

3. Pardani A, Lasho TL, Finke C, Hanson CA, Tefferi A: Prevalence and clinicopathologic correlates of JAK2 exon 12-Mutations in JAK2 V617F-negative polycythemia vera. Leukemia 2007; 21: 1960 – 1963

4.     Swerdlow SH, Campo E, Harris NL et al.: WHO-Classification of Tumours of Haematopoietic and Lymphoid Tissues. Lyon: IARC; 2008

5.     Campbell PJ, Scott LM, Buck G et al.: Definition of subtypes of essential thrombozythemia and relation to polycythemia vera based based on JAK2 V617F mutation statu: a prospective study. Lancet 2005; 366 (9501): 1945 – 1953

6.     Godfrey AL, Chen E, Pagano F et al: JAK2 V617F homozygosity arises commonly and recurrently in PV and ET, but PV is characterized by expansion of a dominant      homozygous clone. Blood 2012; 120 (13): 2704 – 2707

7. Tiedt R, Hao-Shen H, Sobas MA et al.: Ratio of mutant JAK2 V617F to wild type JAK2 determines the MPD phenotypes in transgenic mice. Blood 2008; 111(8): 3931 – 3940

8. Pikman Y, Lee BH, Mercher T, et al.: MPL W515L is a noval somatic activating mutation in myelofibrosis with myeloid metaplasia. PLoS Med. 2006; 3(7):e270

9. Klampfl T, Gisslinger H, Harutyunyan AS et al.: Somatic mutations of calreticulin in myeloproliferative neoplasms. N Engl J Med. 2013; 369(25): 2379 – 90

10. Nangalia J, Massie CE, Baxter EJ et al.: Somatic CALR mutations in myeloproliferative neoplasms. N Engl J Med. 2013; 359(25): 2391 – 2405

11. Rumi E, Pietra D, Ferretti V, Klampfl T, Harutyunyan AS et al.: JAK2 or CALR mutation status defines subtypes of essential thrombocythemia with substantially different clinical course and outcomes. Blood 2014; 123(10): 1455 – 1551

12. Rotunno, G, Mannarelli C, Guglielmelli P et al.: Impact of calreticulin mutations on clinical and hematological phenotype and outcome in essential  thrombozythemia. Blood 2014; 123: 1552 – 1555

13. Tefferi A, Lasho TL, Finke CM, Ketterling R et al.: CALR vs JAK2 vs MPL-mutated or triple-negative myelofibrosis: Clinical, cytogenetic and molecular comparisons. Leukemia 2014; 28: 1472 – 1477

14. Tefferi A, Guglielmelli P, Lasho TL, Rotunno G et al.: CALR and ASXL1 mutations-based molecular prognostication in primary myelofibrosis: an International study of 570  patients. Leukemia 2014; 28: 1494 – 1500

15. Cazzola M, Kralovics R: From Janus kinase 2 to calreticulin: The clinically relevant genomic landscape of myeloproliferative neoplasms. Blood 2014; 123(24): 3714 – 3719

16. Klampfl T, Harutyunyan A, Berg T et al.: Genome integrity of myeloproliferative neoplasms in chronic phase and during disease progression. Blood 2011; 118(1): 167 – 176

17. Pietra D, Rumi E, Ferretti V et al.: Differential clinical effects of different mutation subtypes in CALR-mutant myeloproliferative neoplasms. Leukemia 2016; 30: 431 – 438

http://www.wisplinghoff.de/fileadmin/user_upload/pdf/Laborinformationen/Stufendiagnostik_MPN_web.pdf

Laborinformation Diagnostik der myeloproliferativen Neoplasien